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TV Brötzingen - seit über 130 Jahren
Am 1. August 1880 war es soweit: An die 60 Turninteressierte kamen in einer Brötzinger Gastwirtschaft zusammen, um den neuen Verein aus der Taufe zu heben. Als Hauptinitiator der Vereinsgründung darf man Wilhelm Bellosa vermuten, den die Anwesenden mit großer Mehrheit zum Vorsitzenden wählten. Die übrigen Mitglieder des Vorstandes und des Turnrates gehörten anders als der Vorsitzende zum "Brötzinger Uradel": Staib, Eberle, Wurster... Ein Eberle lehnte übrigens die Wahl in den Vorstand ab, obwohl er von allen Gewählten die höchste Stimmenzahl erhalten hatte. Die Vereinsgründer gingen auf Nummer Sicher und wählten an seiner Stelle den Wirt des "Grünen Baums", in dem die Versammlung stattfand - wie hätte er nein sagen können?
Veteranentreffen, 50 Jahre danach: Gruppenbild aller Gründungsmitglieder des TV Brötzingen, die 1930 noch lebten
Das späte 19. Jahrhundert war in ganz Deutschland die große Zeit der Vereinsgründungen, und so entstand auch im damaligen Dorf Brötzingen eine Vielzahl von Zusammenschlüssen, die sich dem Singen, dem Sport, dem Schießen oder der Bildung widmeten. Von diesen Vereinen war der 1861 gegründete Männerchor der älteste, der Turnverein der zweitälteste; beide, der Turnverein wie der Männerchor, besaßen zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine herausragende Position in der Gemeinde, denn noch gab es weder für die Turner noch für die Sänger ernsthafte Konkurrenz. Noch...
Den Weg hin zu einer 'Brötzinger Institution' hatte der Verein bereits 1886 eingeschlagen, als der Turnrat beschloss, auf den Bau einer vereinseigenen Turnhalle hinzuarbeiten und zu diesem Zwecke einen "Turnhallen-Baufonds" zu bilden. Erste sportliche Erfolge bei verschiedenen Turnfesten der näheren und weiteren Umgebung und werbewirksame Auftritte bei örtlichen Veranstaltungen taten ein Übriges, um die "Turner" zu einem festen Bestandteil des Dorflebens zu machen. Eine repräsentative Turnfahne war nun ein absolutes Muss, 360 Mark zahlte der Verein 1892 an die Biberacher Fahnenfabrik für das reich verzierte Stück, das sich noch heute im Vereinsbesitz befindet. Ein durchschnittlicher deutscher Arbeitnehmer musste damals ungefähr sieben Monate arbeiten, um diesen Betrag als Verdienst nach Hause tragen zu können.
Turnfahne des TV Brötzingen aus dem Jahr 1892
Dass sich die Verhältnisse gegenüber der Gründerzeit zu wandeln begannen, merkte man schon 1906: Waren 20 Jahre zuvor für unentschuldigtes Fehlen bei Vereinsveranstaltungen noch empfindliche Geldstrafen angedroht, versprach man nun jedem Turner, der in Turnkleidung bei einer Beerdigung erschien, drei Glas Bier auf Vereinskosten. Für den Turnverein war die Zeit der Konkurrenzlosigkeit vorbei. 1906/07 entstand zunächst der Ballspielclub Germania Brötzingen (heute FC Germania Brötzingen), die aufstrebende neue Sportart 'Fußball' entfaltete fortan auch in Brötzingen ihre Anziehungs- kraft. Am 1. Januar 1905 war Brötzingen außerdem zum Stadtteil von Pforzheim geworden, und das einstige Dorf wandelte sich rasch zum städtischen Arbeiterviertel, in dem die Arbeiterbewegung nicht nur politisch den Ton angab: Neben der traditionellen Turnbewegung, die der Turnverein repräsentierte, etablierte sich die Arbeitersportbewegung, und im 'roten Brötzingen' schlug sich das gleich in drei Vereinsgründungen nieder: In direkte Konkurrenz zum Turnverein trat der "Arbeiter-Turnerbund Brötzingen", daneben gab es aber auch noch den Radfahrerverein "Freie Radler" Brötzingen und einen Arbeiter-Gesangverein, und man blieb grundsätzlich 'unter sich'. So war das eben damals: Arbeiter-Sportvereine trugen gegen 'bürgerliche Vereine' ebenso wenig Wettkämpfe aus wie Turnvereine mit Sport- vereinen, die nicht zur Turnbewegung zählten. Wenn die Brötzinger 'Turner' Fußball spielten, dann gegen andere Turnvereine, wie etwa 1910, als man dem Turnverein Pforzheim mit 5:0 eine deutliche Abfuhr verpasste.
Das bis dahin rasante Wachstum des Turnvereins, der 1906 immerhin schon 621 Mitglieder zählte, wurde durch die neue sportliche Konkurrenz, zu der auch die Brötzinger Kraftsportler und die 'bürgerlichen' Radfahrer zählten, merklich gedämpft. 'Fortschritt' gab es aber dennoch: 1911 fungierte die Turnhalle als eines der ersten Pforzheimer Lichtspieltheater, ein Wanderkino führte dort zweimal in der Woche Filme vor.
Frauenturnen gab es beim TV Brötzingen schon vor dem Ersten Weltkrieg. Hier eine Jugendturnerinnenriege aus den 20er Jahren
Die Brötzinger Faustball-Meistermannschaft von 1926
Die erfolgreichen Handballer des Jahres 1927. Alle 1926 erfolgreichen Faustballer gehörten auch der Handballmannschaft an
Freiluft-Turnen mit Musik auf dem alten Turnplatz (um 1930)
Turnen im Zeichnen des Hakenkreuzes.
Der Zweite Weltkrieg brachte den Sportbetrieb zunächst weitgehend zum Erliegen. Die Vereinsturnhalle war von der Wehrmacht belegt, die jüngeren Mitglieder waren zur Wehrmacht eingezogen. Als die Phase der Blitzkriege zu Ende war, kehrten viele - vorübergehend - wieder zurück, und auch im Verein gab es wieder ein wenig scheinbare "Normalität", der allerdings der "totale Krieg" schon bald ein Ende machte.
Anders als die Pforzheimer Innenstadt blieb der Stadtteil Brötzingen von den katastrophalen Folgen des verheerenden Luftangriffs am 23. Februar 1945 verschont; annähernd 20 000 Menschen fanden bei diesem rund 20minütigen Angriff auf Pforzheim den Tod, das Pforzheimer Stadtzentrum existierte anschließend nicht mehr.
Noch 1948 gab es einen regelrechten Grenzübergang zwischen Pforzheim (US-amerikanische Besatzungszone) und Birkenfeld (französische Besatzungszone)
Plakat zum Handballtunier am 21.April 1946
Bernd Rössle beim Landesturnfest 1974 in Offenburg
Anette und Sabine Toifl
Entstehung der neuen Halle
Im Jahre 1980 feierte der Verein sein 100. Jubiläum und hatte damit Gelegenheit, Rückschau zu halten, und man durfte zufrieden sein. Der Verein besaß und besitzt bis heute eine moderne Sportanlage mit eigener Sporthalle und benachbartem Freigelände, der Verein hatte 929 Mitglieder, davon 396 Jugendliche. Sportliche Highlights gab es freilich nicht mehr in so großer Zahl wie früher; Meisterschaften auf Verbands- oder gar deutscher Ebene gehörten zu dieser Zeit ebenfalls der Vergangenheit an, denn längst waren Mannschaften, die sich ausnahmslos aus eigenem Nachwuchs rekrutierten, in höheren Klassen nicht mehr konkurrenzfähig, der lupenreine Amateur lieferte selbst in unteren den Klassen der meisten großen Sportarten nur noch Rückzugsgefechte. Immerhin errangen die Brötzinger Handballer im Jubiläumsjahr die Pforzheimer Kreismeisterschaft und konnten einmal mehr in die Landesliga aufsteigen, wo sie allerdings nur ein kurzes Gastspiel gaben.
Der Blick zurück auf die erfolgreiche Vergangenheit verstellte freilich nicht den Blick darauf, dass die deutschen Turn- und Sportvereine mehr und mehr unter Anpassungsdruck gerieten. Das Sportangebot nahm rasant zu, neue Vereine schossen aus dem Boden und neue "Trendsportarten" traten zunehmend in Konkurrenz zu den traditionellen Sportangeboten der Turn- und Sportvereine. Der Tennisboom der achtziger Jahre etwa, aber auch manche andere Neuerung machten die Gewinnung von Nachwuchs selbst für Fußballclubs zum Problem, kommerzielle Sportangebote beispielsweise in Fitnessstudios schienen für viele ältere besser in die Zeit zu passen: Die Aerobic im Fitnessstudio war zwar auch nicht anders als im Verein, die in den Studios üblichen modischen Outfits, die Wellnessangebote und nicht zuletzt die Unverbindlichkeit der Studios, in denen der Sportler mit Ausnahme der Beitragszahlung eben keine wie auch immer geartete Verpflichtung übernimmt, erschienen vielen als eine attraktive Alternative zum Sportverein.
Die meisten Turn- und Sportvereine reagierten auf diesen Wandel rechtzeitig, und auch der TV Brötzingen machte sich erfolgreich daran, den Weg hin zum "Dienstleister" zu beschreiten: Angebote aus dem Bereich des Gesundheitssports, Zusammenarbeit mit Krankenversicherern und eine Verbreiterung des Sportangebots steigerten die Attraktivität des Vereins. Volleyball, Badminton und Boule kamen seitdem als neue Sportarten hinzu, und Volleyball wurde mittlerweile sogar zum Aushängeschild des Vereins. Dass dieser Weg richtig war, zeigte sich an der Entwicklung der Mitgliederzahl: Sie stieg rasch auf über 1 000 an und liegt heute bei rund 1 400.
Um die Mitte der 80er Jahre machte jedoch zunächst der Handballsport Furore, denn der TV Brötzingen spielte über Jahre mit seinen A- und B-Jugendmannschaften in den Verbandsoberligen und mischte hier auch vorne mit. Leider gelang es nicht, diese Leistungsexplosion in der aktiven Mannschaft fortzusetzen, die größten Talente wanderten ab oder beendeten nach dem Ende der Schulzeit ihre aktive Laufbahn.
Die bedeutendste Karriere machte indessen eine der neuen Sportarten im Verein, der Volleyball: Geduldige Aufbauarbeit zeigte hier Früchte, die Damenmannschaften erklommen auf der Erfolgsleiter eine Sprosse nach der anderen und spielen mittlerweile in der höchsten Verbandsklasse, der Oberliga; der 2004/05 erreichte dritte Platz und die überzeugenden Spiele der letzten Runde lassen Gedankenspielen Raum, dass die Oberliga noch lange nicht das Ende aller Ambitionen sein Muss - zumal, wenn man an den starken Unterbau denkt: Die zweite Mannschaft spielt in der Landesliga, die dritte Mannschaft in der Bezirksliga.
Darüber sei aber nicht vergessen, dass der TV Brötzingen auch in seiner angestammten Domäne, dem Handball, Erfolge feiern konnte. 1998 feierte die von Spielertrainer Andreas Wallisch betreute Mannschaft den Aufstieg in die Landesliga, und dieses Mal war das Team nicht nur stark genug, um die Klasse zu halten, sondern spielte auch in der Spitze mit. Nach einigen Spielerabgängen musste die Mannschaft dann aber 2001 zurück in die Kreisliga.
Heute, 130 Jahre nach seiner Gründung, gehören dem Turnverein Brötzingen mehr als 1400 Mitglieder an, die in einem großen Mehrspartenverein ihrem Lieblingssport nachgehen. Den Weg zum Dienstleister in der Freizeitgesellschaft hat der Verein längst mit Erfolg zurückgelegt - ohne die familiäre Atmosphäre aufzugeben, die den TV Brötzingen, von allem sportlichen Ehrgeiz unbeschadet, von Beginn an auszeichnet.